"Status ungeklärt" - Veranstaltung zum Forum 89/90+

Titel der Veranstaltung: Migrant*innen in Ostdeutschland 89/90+

Open Talk mit
Angelika Nguyen | Autorin, Filmjournalistin und Aktivistin 89/90+
Patrice Poutrus | Historiker, Migrationsforscher und Zeitzeuge 89/90+
Huong Vu Thi Nguyet | Zeitzeugin 89/90+ und Beraterin für Migrant*innen in Oberschöneweide

Weiter Veranstaltungen und Informationen: https://bit.ly/2Pi0fph

Fotos: Tamerlan Bibulatov // offensiv'91 e.V.

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IMG 5165Am 10. Mai waren wir zu Besuch in den Reinbeckhallen, beim Forum 89/90+. Es ging um die Erfahrungen von Migrant*innen in Ostdeutschland um 1989/90 und den darauffolgenden Jahren. Geladen waren die Expert*innen Angelika Nguyen (Filmjournalistin, Autorin und Aktivistin), Patrice Poutrus (Historiker, Migrationsforscher und Zeitzeuge) und Huong Vu Nguyet (Zeitzeugin und Beraterin für Migrant*innen in Oberschöneweide). Als Moderatorin führte die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Reinbeckhallen, Sophie Schulz, durch den Abend. Die angeregte Diskussion zeigte ermächtigende Momente neben rassistische Erfahrungen auf, individuelle Situationen neben strukturellen Dynamiken, Komplexität neben Kollektivität.

Der Augenblick des Mauerfalls bedeutete zunächst vor allem Unsicherheit, wie Huong Vu Nguyet zu Beginn der Veranstaltung betont: "Jeder war mit sich und seinen Gedanken. Die Verarbeitung hat lange gedauert." Gemischte Gefühle hätten die Zeit bestimmt. Zunächst sichere Verhältnisse waren von einen Tag auf den anderen über den Haufen geworfen.

Fragen des Bleiberechts bestimmen die Wendezeit

"Vielen war klar, wenn sich die politischen Verhältnisse ändern, ändert sich vor allem etwas für uns", erklärt Poutrus. Ganz so simpel sei es dennoch nicht gewesen. Zwar fielen innerbetriebliche Sozialleistungen relativ schnell weg und Vertragsarbeitnehmer*innen seien unter den ersten gewesen, deren Jobs gekündigt wurden. Doch hätten die Länder ganz unterschiedlich reagiert. Als Kind einer binationalen Partnerschaft habe auch er sich die Frage gestellt, wie es mit ihm weitergeht: "Dabei hatte das Bundesverfassungsgericht schon viel früher aufgrund einzelner Fälle beschlossen, dass alle Ostdeutschen einbürgert werden. Nur wusste ich das damals nicht." Insgesamt hätten die folgenden Jahre sehr an den Nerven gezehrt.

IMG 5145Nguyen, die in der DDR aufgewachsen ist, kann dies nicht nur für die Wendezeit bestätigen. "Meine Mutter hat meinen Vater auf einer Dienstreise nach Vietnam kennengelernt. Patrice weiß, wovon ich spreche. Das war zu einer Zeit, da war die DDR fast nur weiß. Alltagsrassismus war normal. Als die Vertragsarbeiter*innen kamen, hatte ich Angt um die Leute."

An dieser Stelle ergänzt Vu Nguyet den großen Zusammenhalt unter den vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen: "Viele haben mir von schönen Jahren erzählt. Es war wie eine zweite Heimat. Natürlich gab es wenig Freizeit, aber viel Miteinander." Erst nach der Wende hätten viele Angst um ihre Sicherheit gehabt. Freundschaften hätten einige bewegt, zu bleiben, und die Überzeugung, dass es auch nach der Wende eine Chance für sie in Deutschland gebe. Von Anfang an habe es im Überlebenskampf Netzwerke der gegenseitigen Unterstützung gegeben. Nach 1990 seien viele gezwungen gewesen, auf der Straße Dinge zu verkaufen, die Kindererziehung sei hinzugekommen und die Erkenntnis, dass viele weiße sie nicht mochten, als Konkurrenz wahrnahmen. Und dennoch, das Gefühl, hier eine Familie zu haben, existiere noch heute.

Ein Land auf gepackten Koffern - eine denkbar schlechte Position für Respekt und Akzeptanz

Poutrus beschreibt seine Erfahrung mit der DDR als ein Land auf gepackten Koffern: "Und da komme ein Vertragsarbeiter rein - eine denkbar schlechte Position für Respekt und Akzeptanz." Das sei auch so vorgesehen gewesen, Vertragsarbeiter*innen als politisch konforme Arbeitskräfte. Das habe sich natürlich auf den Arbeitsplatz ausgewirkt: "Was wollt ihr hier? Wir wollen doch weg! Auf der andere Seite die Ansage, sich gut verhalten zu müssen." Nach dem Mauerfall habe sich dann etwas kondensiert. Die zuvor immer volle Straßenbahn sei auf einmal leer gewesen: "Ich stand in der Kantine und da fragt mich einer 'Warum bist du eigentlich noch hier?' Ich habe es nicht verstanden, habe die Differenz zwischen uns nicht gesehen."

IMG 9810Das Ausländerrecht sei nicht nur in der BRD rigide gewesen, erklärt Poutrus: "Mein Vater hat alles genutzt aus dem Bildungssystem. Als er habilitiert war, musst er gehen. Meine Eltern waren verheiratet." Auch auf den Umgang mit der Schwangerschaft von Vertragsarbeiterinnen kommen die Expert*innen zu sprechen. Nach Protesten wurden die Abschiebungen zurückgenommen. Die DDR hätte jedoch schon früher etwas gegen die Forderung Vietnams tun können. Die Arbeit habe im Vordergrund gestanden.

Die Chance der nächsten Generation

IMG 9782Nguyen betonte im Anschluss, dass es auch im Westen der 1990er Jahre viele Rassismuserfahrungen gegeben habe, und lenkt das Gespräch auf einen gleichermaßen unerwarteten wie versöhnenden Moment durch die Kinder vietnamesischer Einwanderer*innen. Lange Zeit hätten die sogenannten Boatpeople, die in den 1970er Jahren im Zuge der Folgen des Vietnamkrieges in die BRD flüchteten, nicht mit vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen zu tun haben wollen. "Die Umbauung nach dem Krieg war ein Schock für Südvietnames*innen. Die Kollektivierung der Landwirtschaft führte zu Hungersnot. Auch Vertragsarbeiter*innen aus Südvietnam standen unter einem besonderen Druck, ihre Familie durchzubringen", ergänzte Poutrus. Über ein Theaterprojekt sei es zu einer Annäherung gekommen, ohne die mittlerweile groß gewordenen Kinder wäre dies nicht so einfach gelungen, bekräftigt Ngyuen ihre Rolle für diese Versöhnung.

Konflikte spitzen sich in Krisensituationen zu, aber sie entstehen vorher

Rassismus gab es im Osten wie im Westen Deutschland. Dennoch finde sie die Auslagerung der Erzählung allein auf den Osten nicht richtig, ärgert sich Nguyen. Solingen, ein Brandanschläge auf Boatpeople sind nur zwei Beispiele von vielen, die zeigen, dass struktureller Rassismus ebenso im Westen Deutschland vorherrschte - bereits vor der Wende, aber natürlich auch danach. Gleichzeitig werde der Westen entlastet. Eine ebenso falsche Erzählung sei die soziale Bedingung für rassistische Vorfälle, unterstreicht Poutrus. Natürlich spitzen sich Konflikte in Krisensituationen zu, doch entstünden sie vorher.

IMG 9811Ob es denn zu vielen Kontakten zwischen Bürger*innen der DDR und Gastarbeiter*innen gekommen sei? Eher weniger, so Vu Ngyuet. Die Wohnheime seien stark reglementiert gewesen, nimmt Poutrus den Faden auf, wobei die restriktive Ordnung im Alltag auf den "sozialistischen Schlendrian" getroffen sei: Menschen hätten auch hier gewusst, mit den ihnen gesetzten Grenzen umzugehen. Es habe beispielsweise ein florierendes Mode-Kleingewerbe in den Unterkünften gegeben, das auch nach der Wende fortgeführt wurde. Diese Strategien am System vorbei waren für Migrant*innen wichtig, um die Familie zuhause zu unterstützen.

Mit Hütchenverteilen kommen wir nicht weiter!

Und heute? Die Ausbeutung habe sich nur verschoben. Stereotype oder Hütchenverteilen bringe die eigentliche Debatte nicht weiter. Menschen zahlen einen Preis: "Die Frage, wer sie im Innern waren, hat überhaupt nicht gezählt! Die Schwierigkeiten, die sich ergeben haben, sind nicht darauf zurückzuführen, ob manche Gruppen besser zu uns passen als andere. Es geht um die Hierarchie im Kopf, von der einige profitieren und viele leiden. Menschen werden zu Anderen gemacht. Das ist unglaublich einfach, macht das Leben leichter. Es ist attraktiv auch für diejenigen, die glauben, von der Gesellschaft nicht besonders bedacht worden zu sein. Ohne diese Hierarchie auszukommen, das ist die Herausforderung."

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Dies ist eine Zusammenfassung des Dialogs. Es folgt noch eine Audioaufnahme zum Nachhören.


About the author
Katha
Katha

Katha koordiniert InteraXion, Willkommensbüro und Wohnraumberatung für Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung in Treptow-Köpenick. Sie begleitet RawafedZusammenfluss von hauptamtlicher Seite. Journalistische Erfahrung konnte sie durch verschiedene Projekte der Jugendpresse und dem Studierendenmagazin UnAufgefordert sammeln. Wenn sie nicht nach neuen Geschichten sucht, tummelt sie sich in Boulderhallen.

Katha coordinates InteraXion, the welcome office for migrants* and refugees in Treptow-Köpenick and accompanies RawafedZusammenfluss through her work. She gained journalistic experience through various youth press projects and the student magazine UnAufgefordert. When she is not looking for new stories, she spends her time in bouldering halls.

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